DFG-Projekt: "Das Dorf Christi. Institutionentheoretische und funktionshistorische Perspektiven auf Oberammergau und sein Passionsspiel im 19.-21. Jh."

 

Leitung: Prof. Dr. Julia Stenzel, JGU Mainz / PD Dr. Jan Mohr, LMU München

 

Zum Projekt

Das Projekt untersucht interdisziplinär (Theaterwissenschaft, Literaturwissenschaft, Ethnologie) die Pluralisierung und Stabilisierung des Oberammergauer Passionsspiels seit dem 19. Jahrhundert. Ausgehend von institutionentheoretischen Ansätzen fragt es danach, wie in Oberammergau Ansprüche auf religiöse Verbindlichkeit perpetuiert und wie Geltungserosionen durch kompensatorische Narrative aufgefangen werden. Mit der zweiten Förderphase weitet sich der Blick auf die medienhistorischen Voraussetzungen dafür, wie die Ansprüche auf Geltungskontinuität in Oberammergau aufrechterhalten werden können (Bildregimes und Bildhegemonien, die Funktion von Dingen im Dorf und auf der Bühne für institutionelle Stabilisierung und Transformation).

 

Oberammergau

Das seit 1634 regelmäßig aufgeführte Passionsspiel steht in der Tradition spätmittelalterlicher geistlicher Spiele. Freilich haben sich seine pragmatischen und funktionellen Parameter seither verschoben. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts zieht Oberammergau ein internationales Publikum an, das von einer gut organisierten Touristikbranche betreut wird. Im 20. Jahrhundert werden Spiel und Dorf durch die nationalsozialistische Propaganda vereinnahmt, seit den 1970er Jahren reagiert man allmählich auf Antisemitismus-Vorwürfe. Mit der Übernahme der Spielleitung durch Christian Stückl 1990 schließlich wird die Selbstvermarktung intensiviert und gewinnen Aufführungsästhetik und Selbstreflexion einen bis dahin ungekannten diskursiven und pragmatischen Stellenwert.

 

Projektarbeit

Die Projektarbeit verfolgt, wie die Spannung zwischen Traditionsbezügen und sich verändernden historischen und medialen Kontexten in einer Institution Oberammergau verhandelbar wird. Dazu kommen nicht nur die Spiele, sondern auch Zuschreibungen an das Dorf und die verschiedenen – individuellen, kollektiven, dinglichen – Akteure sowie Mediatisierungen von Oberammergau und seinem Passionsspiel in den Blick. Wir erfassen Dokumentationen und Kommentare unterschiedlichster medialer Verfasstheit und über ethnologische Feldarbeit auch Positionen abseits des dominanten schriftlichen Diskurses. So beziehen wir einen in seiner Komplexität kaum beachteten Gegenstand auf zentrale theater- und textwissenschaftliche, medienhistorische sowie ethnologische Forschungsdiskurse: Theater als Ort von Vergemeinschaftung, Muster der Narrativierung von Spieltradition und Selbstkonzepten (telling history), narrative und performative Konstruktion von Eigenräumen und Eigenzeiten, Religion und Tourismus, die intermediale Szenographie von Bühnen- und Stadtraum. Den gemeinsamen Problemhorizont bildet die Frage nach Funktionalisierungen von Religiosität in Kontexten, die als ‚postsäkular‘ oder ‚multipel säkular‘ in den Blick kommen können.

 

COVID-19 in Oberammergau

Die durch die COVID-19-Pandemie generierte Latenzphase 2020–2022 hat dem Projekt neue Fragehorizonte aufgegeben: Die für 2020 angesetzte Passionsspielzeit wurde um zwei Jahre verschoben. Die längst Metapher gewordene Rede von der Heil(s)kraft des Spiels scheint urplötzlich konkret geworden. Während in den Gemeindebüchern vom ersten Spiel auf den frischen Gräbern der Pesttoten die Rede ist (damals spielte man noch auf dem Kirchhof), redet man heute im Dorf schon davon, wie das Spiel durch die Erfahrung von ‚Corona‘ ein anderes sein werde. Passion spielen unter dem Signum einer multipel säkularen Moderne ist nicht mehr Wiederholung von Christi Leid und auch nicht mehr der Ausgleich einer Rechnung mit Gott. Es ist die Hülle eines psychophysischen Durcharbeitens der eigenen Erfahrung, für die Kreuzigung, Begräbnis und Auferstehung suggestive Bilder bereitstellen; und diese Erfahrung generiert eine Schicksalsgemeinschaft, die nicht mehr eschatologisch, sondern globalisierungstheoretisch zu denken ist. 2022, wenn die Spielzeit nachgeholt werden soll, werden nach den Geschehnissen der vergangenen Monate Spielende und Zuschauende von einer Erfahrungs- zu einer Erlebnisgemeinschaft.