MA S. FTMK interdisziplinär II: Welt ohne Theater. Wie transformiert die COVID-19-Pandemie das Sozialleben und die Szenischen Künste?

Dozent:innen: Univ.-Prof. Dr. Friedemann Kreuder
Kurzname: S FTMKinterdisz II
Kurs-Nr.: 05.KuTheFi.19_630
Kurstyp: Seminar

Voraussetzungen / Organisatorisches

Vor dem Hintergrund der Corona-Situation bestehen die Lehrveranstaltungen des Instituts für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft (FTMK) im Sommersemester aus Formaten, die aus der Ferne, weitgehend digital unterrichtet werden. Sollte es hierdurch zu inhaltlichen Modifikationen kommen, finden Sie diese in der u.s. Veranstaltungsbeschreibung. Bitte berücksichtigen Sie diese Informationen im Rahmen der zweiten Anmeldephase.
Der Vorlesungsbetrieb startet am Montag, dem 20. April 2020. Die DozentInnen der von Ihnen gewählten Veranstaltungen werden Sie rechtzeitig vor Veranstaltungsbeginn über den geplanten Ablauf des Seminars informieren. Damit Sie alle notwendigen Informationen zuverlässig erhalten, bitten wir Sie dringend, regelmäßig das Postfach Ihres Unimail-Accounts zu kontrollieren.

Inhalt

Leitung: Prof. Friedemann Kreuder (FTMK) und Prof. Stefan Hulfeld (Universität Wien)

Der Besuch szenischer Aufführungen in ihren vielfältigsten Formen (Tanz, Fest und Feier, Zeremonie, Artistik, Figurentheater, Performance, Drameninszenierung, Comedy, Musical, Oper, Happening etc.) befriedigt immer auch ein simples Bedürfnis, nämlich jenes, „in Gesellschaft" zu sein und anhand einer geteilten Erfahrung in Dialog zu treten. Unabhängig davon, was daraus zusätzlich an Zeitvertreib oder reflexiver Bewusstseinserweiterung resultieren mag, sind Aufführungen ein Erfahrungsraum, in dem Gesellschaft exemplarisch erlebt wird, selbst wenn dies eine trügerische und soziologisch unhaltbare Annahme ist. Darüberhinaus wurzeln szenische Aufführungen direkt in den sozialen Erfahrungen des Alltags, die maßgeblich durch theatrales Interagieren mit hervorgebracht werden. Die konkrete Leiblichkeit und Sinnlichkeit solcher Interaktionen, die dabei geteilte Zeit und der geteilte Raum sowie das spielerische Potential sind jene konstitutiven Elemente von szenischen Aufführungen, wegen denen Theater aber immer wieder auf Widerstand gestoßen ist. So ist über Jahrhunderte hinweg eine religiös oder philosophisch motivierte Ablehnung der theatralen Dimension sozialen Lebens sowie der darauf basierenden Künste zu beobachten, während in jüngerer Zeit eher das eine globale Digitalisierung propagierende Fortschrittsdenken konkret-leibliches Interagieren als umständlich, kostenintensiv und deshalb erlässlich positioniert.

Derzeit ist ein erheblicher Anteil der Weltbevölkerung durch die COVID-19-Pandemie aufgerufen oder gesetzlich verpflichtet, räumliche Distanzierung (engl. social distancing) zu praktizieren, während viele Geschäftsbereiche und Grenzen geschlossen sind, Verkehrswege und -mittel bis auf Weiteres außer Betrieb stehen, Kultureinrichtungen geschlossen bleiben und szenische Aufführungen abgesagt wurden. – Auch die Wiener Festwochen, zu denen sich Studierende der Universitäten Wien und Mainz eine Woche lang zu Aufführungsbesuchen und Reflexionen treffen wollten, können nicht wie geplant stattfinden. Allerdings unterscheidet sich die „Absage" der Wiener Festwochen von anderen Absagen. Sie bleibt vage und tut kund, dass an „alternativen Optionen für 2020" gearbeitet werde. Christophe Slagmuylder stellt als Intendant der Festwochen die Möglichkeit in den Raum, mit dem Publikum „kleinere oder größere ‚Gesten‘ zu teilen". Das Bekenntnis, sich in Rücksicht auf die in den nächsten Wochen jeweils gegebenen Umstände flexibel zu halten, kann dahingehend interpretiert werden, dass die Phase einer künftigen ‚Normalisierung‘ der Lebensverhältnisse als Phase einer gesellschaftlichen Transformation antizipiert wird, in der sich die Festwochen nicht a priori durch eine Absage um die Möglichkeit prellen wollen, Künstlerinnen und Künstler in einem so kritischen Zeitraum eine Plattform zu bieten.

Der Festwochencampus kann selbstredend auch nicht in der geplanten Form stattfinden. Aber er schließt sich der Strategie der Festwochen an, sich Optionen offen zu halten, während der theaterlose Zustand und die Digitalisierung der Sozialkontakte in den Fokus genommen wird (Phase 1). In weiterer Folge interessiert im Kontext des Seminars, wie sich die Theater- und Kulturlandschaft im Zuge einer künftigen ‚Normalisierung‘ transformiert und wie dies theaterwissenschaftlich beschreibbar ist (Phase 2).

Hypothetisch lässt sich vermuten, dass aus der derzeitigen „Welt ohne Theater" im konkreten und metaphorischen Sinn zwei gegensätzliche Dynamiken resultieren. Der Entzug von unmittelbaren Sozialkontakten und szenischen Aufführungen kann die Bedeutsamkeit derselben intensiviert in das Bewusstsein und Verhalten bringen. Das würde bedeuten, dass beispielsweise ein Treffen mit dem Freundeskreis im Restaurant oder Präsenzlehre in den Schulen und Universitäten als Bedürfnis mit in Abstinenz vitalisierter Lust empfunden wird oder szenische Aufführungen sofort ein entwöhntes und entsprechend dankbares und zahlreiches Publikum finden, sobald dies möglich ist. Gleichzeitig würden boomende Videokonferenz-Plattformen, Streamingdienste, Fernsehsender oder Online-Verkaufsdienste spüren, dass es ein Nachholbedürfnis an unmittelbarer Interaktion gibt. Die gegenteilige Hypothese legt nahe, dass die in der Krisenzeit erzwungenermaßen erworbenen Gewohnheiten über diese hinaus das Verhalten prägen und die karitativ verordnete Furcht der Artgenoss*innen voreinander Spuren hinterlässt. Das würde bedeuten, dass die unter ökonomischen Gesichtspunkten attraktiven Formen von Home-office und Fernlehre im Sinne eines Digitalisierungsschubes zur Norm avancieren, Restaurants und Theater nach der Widereröffnung nahezu leer bleiben, weil die Furcht vor dem Virus habituell geworden ist, und dass sich die eigenen vier Wände als eskapistisches Ambiente neuer Beliebtheit erfreuen. – Es ist davon auszugehen, dass die Beobachtung der Normalisierung gerade deshalb eine Herausforderung darstellen wird, weil sich die diesen beiden Hypothesen zugeordneten Verhaltensmuster insgesamt verschränken bzw. unterschiedliche gesellschaftliche Haltungen oder ökonomische Interessen eher auf die eine oder die andere Wirkung der Krise fokussieren werden. – Umso wichtiger scheint es, zeitnah Daten und Erkenntnisse zu sammeln und zu interpretieren, die diese ‚Normalisierung‘ demnächst prägen werden. Anzumerken bleibt allerdings von unserer Warte, dass wir uns selbst als Interessenvertreter verstehen, weil wir nämlich Theaterwissenschaft als ein Fach interpretieren, das für das Grundbedürfnis nach unmittelbaren Sozialkontakten im Alltag und in den Künsten einsteht.

Der damit skizzierte Vorschlag, den Festwochencampus als Seminar mit dem Titel „Welt ohne Theater. Wie transformiert die COVID-19-Pandemie das Sozialleben und die Szenischen Künste?" neu zu planen, lässt sich in die folgenden Themenfelder und Ausgangsfragen unterteilen, um Antworten auf die im Titel formulierte Leitfrage zu finden.

Unmittelbare Sozialkontakte und ihre digitalen Substitute

• Welche Verhaltensänderungen hat die COVID-19-Pandemie eingefordert, durch die auch die theatrale Dimension des Soziallebens weggefallen ist bzw. sich medial neu konfiguriert hat? Wie lassen sich diese Erfahrungen bilanzieren? Inwiefern lassen sich in der Phase der ‚Normalisierung‘ Gegenbewegungen oder das Perpetuieren von Gewohnheiten in Bezug auf das Sozialleben im Ausnahmezustand feststellen?

Strategien von Theaterschaffenden in der Welt ohne Theater

• Was unternehmen Theaterschaffende (im weitesten Sinne: also auch Tanzschaffende, Zirkusartist*innen, Figurenspieler, Performer*innen, Kabarettist*innen, Sänger*innen etc.), um mit ihrem Publikum in Kontakt zu treten? Wie ist das unter ästhetischen Gesichtspunkten zu beurteilen? Auf welche Resonanz stoßen solche Aktionen? Was prägt die Reflexionen von Theaterschaffenden in der theaterlosen Zeit?

Normalisierung des Kultur- und Theaterbetriebs?

• Wie gestaltet sich die Wiederaufnahme des Spielbetriebs? Wie sehr reagieren Aufführungen inhaltlich oder formal auf den durchlebten Ausnahmezustand? Inwiefern finden Theaterhäuser und -truppen wieder ein Publikum? Welche Veränderungen bewirken ökonomische Faktoren? Welche Schritte unternehmen staatliche und private Geldgeber, um ökonomische Krisen im Kunst- und Kulturbereich aufzufangen? Über welche Kunst- und Kulturakteur*innen wird (überhaupt) gesprochen und in welcher Weise?

Wissensfelder und Theorien zum pandemisch bedingten Ausnahmezustand

• In welchen Wissensfeldern und Theorien lassen sich Antworten auf die Frage nach der transformativen Kraft der COVID-19-Pandemie im Sozialleben und in den Szenischen Künsten finden oder verankern?

Transnationalität und Urbanität der theaterlosen Zeit und der Zeit „danach"

• Worin bestehen spezifische kulturnationale Unterschiede (bei der Erforschung der) oben genannten Forschungsfelder? Welche Rolle spielt das Spannungsgefälle von österreichischer Metropolitanität und deutsch-mittelstädtischer Urbanität im Gegenstandsbereich?

Organisationsform des Seminars

Die für den Festwochencampus bereits genannten Termine sollen zunächst grundsätzlich beibehalten werden. Das heißt ein Blockseminar an den Nachmittagen der Kalenderwoche 21 (18.–23. Mai).

 
Stefan Hulfeld & Friedemann Kreuder
Wien & Mainz, am Welttag des Theaters 2020

Termine

Datum (Wochentag) Zeit Ort
16.05.2020 (Samstag) 10:00 - 22:00 Wiener Festwochen
17.05.2020 (Sonntag) 10:00 - 22:00 Wiener Festwochen
18.05.2020 (Montag) 10:00 - 22:00 Wiener Festwochen
19.05.2020 (Dienstag) 10:00 - 22:00 Wiener Festwochen
20.05.2020 (Mittwoch) 10:00 - 22:00 Wiener Festwochen
22.05.2020 (Freitag) 10:00 - 22:00 Wiener Festwochen
23.05.2020 (Samstag) 10:00 - 22:00 Wiener Festwochen
24.05.2020 (Sonntag) 10:00 - 22:00 Wiener Festwochen