MA VL. Theatergeschichte: Theaterformen des 19. Jahrhunderts: Der Hang zum Gesamtkunstwerk (Laube, Dingelstedt, Wagner)

Dozent:innen: Univ.-Prof. Dr. Friedemann Kreuder
Kurzname: VL Theatergeschichte
Kurs-Nr.: 05.155.560
Kurstyp: Vorlesung

Inhalt

Die Vorlesung rekonstruiert die Geschichte von Theaterformen im 19. Jahrhundert aus der Perspektive des diskontinuierlichen Prozesses der auf das Konzept des Gesamtkunstwerks bezogenen unterschiedlichen utopischen Formulierungen, philosophisch-ästhetischen Überlegungen und praktischen Unternehmungen. Der Begriff des Gesamtkunstwerks wird erstmals theoretisch von Richard Wagner in seinen Zürcher Kunstschriften formuliert. Wagner entwirft in Die Kunst und die Revolution (1849) den Begriff auf der Basis einer dreistufigen geschichtsphilosophischen Konzeption zunächst als gesellschaftlich-politische Utopie einer ganzheitlichen kreativen Glücksverheißung für alle Menschen. Die Überlegungen zum Gesamtkunstwerk werden in den Folgeschriften Das Kunstwerk der Zukunft (1849) und Oper und Drama (1850/51) fortgeführt, der Begriff erfährt hier jedoch eine signifikante Verschiebung und Neuakzentuierung weg vom Gesellschaftspolitisch-Utopischen in die Dimensionen ästhetischer Realisierbarkeit. War zuvor das ästhetische Programm der Vereinigung der Künste unmittelbar gekoppelt an die Utopie eines ästhetisch organisierten Staates, in dem der einzelne sich vollkommen frei zu entfalten vermag, steht es nun ganz im Horizont der künstlerischen Umsetzung eines zu schaffenden und aufzuführenden musikalischen Dramas, bei dem alle theatralen Künste im Hinblick auf die Darstellung der dramatischen Handlung funktionalisiert und in einen sinnfälligen Bezug zueinander gesetzt werden. Mit dieser ästhetischen Maxime knüpft Wagner an die Vorüberlegungen und Theaterarbeiten Heinrich Laubes und Franz Dingelstedts an, die in ihren Aufführungen auf ihre je besondere Weise ebenfalls eine Synthese der Künste mit gesellschaftlich-politischen Implikationen anstrebten, Laube etwa mit der Klassikerpflege am Wiener Burgtheater zwischen 1850 und 1867, Dingelstedt mit neuen Formen der Bildregie in seinem Münchner „Gesamtgastspiel“ (1854) sowie Weimarer und Wiener Shakespeare-Zyklus (1864 und 1875); Wagner orientierte sich hierbei aber auch am Modell Goethes und Schillers am Weimarer Hoftheater, arbeitete in dialogischer Spannung zum Historismus der Meininger Herzog Georgs II., übernahm Elemente des Wiener Volkstheaters und antizipierte in gewisser Hinsicht darstellerische Verfahrensweisen des Naturalismus. Wie der weit hinter Wagners Zielsetzungen zurückfallende Versuch ihrer Realisierung bei der Erstaufführung des Ring des Nibelungen 1876 zeigt, lagen die so entwickelten ästhetischen Vorstellungen allerdings jenseits des zeitgenössischen Horizonts des mit theatralen Mitteln Sagbaren und weisen bereits voraus auf die historische Avantgarde.